Dem Tod davongelaufen
Zugegeben, die Geschichten meines Großvaters über seine Desertation und Flucht als Wehrmachtssoldat habe ich immer mit einigen Zweifeln angehört. Nicht, dass ich sie grundsätzlich bezweifel, aber die Erinnerung erzählt doch häufiger mehr über den Erzähler in seiner Gegenwart, als über das Geschehene. Vieles erzählte hatte eine sonderbare Leichtigkeit, eine Spitzbübigkeit und zu viele glückliche Zufälle, als dass man die Geschichten als reine Wahrheit lesen könnte. Und sicherlich lässt man, wenn man seinen Enkelkindern etwas aus dem grausamen Krieg erzählt, einige Details weg, die vermutlich Alpträume verursachen oder Traumata hochkommen lassen. Die Geschichten hat meine Mutter aufgeschrieben und vor kurzem als Buch veröffentlicht (Von der Neiße an den Bug).
Umso erstaunter war ich beim Lesen der Fluchtgeschichte neun junger Frauen aus den Händen der SS. Sie entkamen kurz vor Kriegsende einem Todesmarsch aus dem KZ-Außenlager Leipzig-Schönefeld, der nur dazu diente, Beweise und Zeug*innen der NS-Verbrechen im Konzentrationslager zu vertuschen und zu vernichten.
Trotzdem der Bericht wahrscheinlich während und kurz nach der Flucht entstanden ist, klingt er sprachlich mit der gleichen Leichtigkeit wie die Geschichten meines Opas. Teilweise liest sich das Buch, wie ein Pfadfinder-Abenteuer (eine der Flüchtenden ist tatsächlich Pfadfinderin), oder ein Abenteuerroman für Jugendliche. Die grausamen NS-Verbrechen, welche die Frauen erlebt haben, werden eher beiläufig in Nebensätzen erwähnt (und einige sicher auch weggelassen). Eine getäuschte Erinnerung kann hier nicht als Grund angeführt werden. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass der Text ursprünglich einem Frauenmagazin angeboten werden sollte.
Nun erschien er auf deutsch bei Assoziation A. Er beschreibt, wie Mut, Optimismus und Schlagfertigkeit den Frauen den Weg bahnten. Wie ängstlich und duckmäuserisch die einst stolzen Deutschen angesichts der Niederlage waren und den geflüchteten teilweise halfen um irgendeinen Vorteil nach der Kapitulation zu erlangen. So bittet ein junger deutscher Leutnant der den Frauen eine Art "Passierschein" zukommen hat lassen, "Als Gegenleistung [...] Verraten sie den Amerikanern nicht zu viel von dem, was sie hier gesehen haben".
Das Buch macht nicht nur betroffen, es macht auch glücklich. Glücklich darüber, dass die Geschichte ein Happy End hat, dass die gesamte Gruppe es gemeinsam geschafft hat, am Ende den amerikanischen Befreiern klischeehaft in die Arme zu fallen ("Einer zieht ein frisches Päckchen Camel aus der Tasche, reißt es mit den Zähnen auf und bietet uns allen eine an ... Das entspricht so sehr dem, was wir uns nur in unseren albernsten und altmodischsten Träumen vorstellen konnten, daass es uns zum Heulen ist."
Suzanne Maudet: Dem Tod davongelaufen. Erschienen 2021 bei Assoziation A.