Dritter Oktober 1990
Am 3. Oktober 1990 war ich 13 Jahre alt. Der Staat, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte, war zu Ende, mit ihm auch meine Kindheit. Wir hatten Besuch aus Westdeutschland. Ich fand die Westbesuche immer ein bißchen komisch: die Leute aus der BRD rochen merkwürdig, sprachen komisch und wussten vieles besser. Immerhin hatten sie aber stets Geschenke dabei: Hanuta, Sticker, Matchboxautos und abgetragene Kleidung. Es hing stets ein Gefühl von Ungleichheit in der Luft. Der Ostler ist unterwürfig und nett. Der Westler bringt sein eigenes Klopapier und zeigt damit seine Überlegenheit.
Meine Eltern wollten mit den Westlern anstoßen am großen Tag. Wir Kinder hatten irgendwoher Blitzknaller und Knallfrösche bekommen und zogen um die Häuser. Wie Silvester war an diesem 3. Oktober erlaubt, Feuerwerk zu zünden. Also taten wir das auch. Und die Alten stießen „auf die Einheit“ an.
Und obwohl ich fast noch Kind, zumindest noch nicht Erwachsen war, hatte diese ganze Zusammenlegung der Staaten einen faden Geschmack. Die erste Welle der großen Disruptionen passierte ja bereits vorher. Der 3. Oktober war das Ende der Idee, es könne eine gute sozialistische DDR geben, eine, die ihre Bevölkerung achtet, die die Menschenrechte umsetzt. War denn Sozialismus als Idee nicht eigentlich die Umsetzung der Menschenrechte? Recht auf Würde, Wohnung, Arbeit, Gesundheit?
Ich weiß nicht mehr genau, was ich da als fast-noch-Kind genau dachte. Aber ich weiß, dass das Unbehagen damals begann, ein unbehagen, das ich bis heute in mir trage, das sich manchmal als Wut, aber öfter als Depression äußert. Ein Unbehagen, welches sich nun, 23 Jahre später noch deutlicher bestätigt sieht.
Damals (das wusste ich noch nicht mit 13) hatten viele Angst, der Faschismus könne ich Deutschland wieder groß werden. Und tatsächlich sah es in den 90ern gruselig aus: als Wohnheime für Geflüchtete oder Arbeitsmigrant*innen brannten, die Jahre, welche heute die Baseballschlägerjahre genannt werden.
Lange Zeit konnte sich das aber nicht im Mainstream breit machen. Jetzt haben wieder viele Angst vor einer Ermächtigung der Rechten und vor den Konsequenzen für Gesellschaft und Einzelne. Wenn ich heute durch meine Heimatstadt laufe, stehen rechte Parolen und Hassbotschaften unwidersprochen an den Häuserwänden. Früher hätte sich jemand die Mühe gemacht, sowas mindestens durchzustreichen oder zu übermalen. Heute hängt das einfach so da.
Ich freue mich über jeden arbeitsfreien Tag, aber der 3. Oktober ist für mich kein Grund zum feiern.
Tags: erinnerungen, politik, gesellschaft